J. Lyon: Corruption, Protection and Justice in Medieval Europe

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Titel
Corruption, Protection and Justice in Medieval Europe. A Thousand-Year History


Autor(en)
Lyon, Jonathan R.
Erschienen
Anzahl Seiten
417 S.
Preis
£ 29.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Roman Deutinger, Repertorium „Geschichtsquellen des deutschen Mittelalters“, Bayerische Akademie der Wissenschaften

Die Vogtei ist ein klassisches Thema der deutschsprachigen Mittelalterforschung und hat gerade in jüngster Zeit – nach einer gewissen „Flaute“ – wieder erhöhte Aufmerksamkeit gefunden.1 Im übrigen Europa war und ist das weitaus weniger der Fall, und so ist es eines der Hauptanliegen des Verfassers, der sich schon seit vielen Jahren mit Fragen zum mittelalterlichen Adel beschäftigt, das Phänomen selbst sowie den aktuellen Forschungsstand dazu einem anglophonen Publikum vorzustellen. Auch wenn deshalb naturgemäß viel Bekanntes referiert wird, wäre das an sich schon verdienstvoll genug, zumal es auch auf Deutsch keine Gesamtdarstellung neueren Datums dazu gibt.

Doch der Autor beschränkt sich nicht darauf. Er geht den Dingen auf den Grund und legt seinen Ausführungen ein beeindruckend breites Quellenfundament zugrunde, greift gelegentlich sogar auf ungedrucktes Archivmaterial zurück. Vor allem aber vertieft er seinen chronologischen Durchgang vom 8. bis ins 18. Jahrhundert – das sind die titelgebenden tausend Jahre – in jedem Kapitel um thematische Aspekte und stellt den gängigen Betrachtungsweisen seine eigenen Deutungen gegenüber. Diese betreffen eher selten Details wie etwa gleich zu Beginn der Hinweis auf den spätrömischen advocatus fisci, einen Beamten der staatlichen Güterverwaltung, als einer weiteren Wurzel des Vogtamts neben dem Rechtsbeistand für Kleriker (S. 41–43). Vielmehr sind es einige Leitmotive, die sich über die gesamte Darstellung hinziehen.

Das erste ist die langanhaltende Präsenz des Phänomens: Während sich das Interesse normalerweise auf das Hochmittelalter als die (vermeintlich?) wichtigste Epoche der Vogteigeschichte konzentriert, richtet das Buch seinen Blick dezidiert auch auf spätere Entwicklungen; bezeichnenderweise gehört zu den wenigen Abbildungen eine Urkunde der Äbtissin von Quedlinburg über die Verleihung der Vogtei über das Stift an König Friedrich II. von Preußen vom Jahr 1740 (S. 64). Noch zu dieser Zeit spielte dieses Recht also eine Rolle im staatlichen Herrschaftsaufbau. Das zweite Leitmotiv ist die Betonung des materiellen Aspekts der Vogtei: Es war schlichtweg die finanzielle Einträglichkeit, die das Amt des Vogtes für Adelige so attraktiv machte. Ein drittes, damit verbundenes ist der Umstand, dass Klagen über den Missbrauch des Vogtamtes durch seine Inhaber die Geschichte der Vogtei von Anfang an begleiten. Noch stärker als die bisherige Forschung stellt der Autor heraus, dass es sich dabei nicht bloß um topische Jeremiaden sich benachteiligt fühlender Geistlicher handelt, sondern dass tatsächlich gewaltsame Übergriffe auf die Untertanen der Kirchen und Klöster von Seiten der Vögte das ganze Mittelalter hindurch an der Tagesordnung waren. Das lag offenbar auch daran, dass die Kompetenzen der Vögte lange Zeit nicht genau definiert waren, was zu ihrer eigenmächtigen Ausweitung geradezu einlud. Schließlich verfügten die Vögte bzw. ihre Gefolgsleute vor Ort quasi über ein Gewaltmonopol, dem weder die Geistlichen noch ihre Untertanen wirklich etwas anderes entgegenstellen konnten als die stets wiederholte Beschwörung des Rechts (und sei es durch die Fälschung entsprechender Urkunden). Aus diesem Grund warnt der Autor auch vor der gängigen Einschätzung, in der hochmittelalterlichen Vogtei eine Wurzel moderner Staatlichkeit zu sehen. Vielmehr sieht er hier mafiöse Strukturen am Werk, in denen „violent entrepreneurs“ sich durch eine Art Schutzgelderpressung persönlich bereichern – wie er selber zugibt, „an uncomfortable comparison for many readers“ (S. 221).

Unbequem ist diese Sichtweise allemal, und sie wird sich vermutlich nicht allgemeiner Zustimmung erfreuen, jedenfalls nicht in dieser Zuspitzung. Richtig ist zwar der Verweis auf die fehlende Trennung zwischen staatlicher und privater Herrschaftsausübung in vormodernen Gesellschaften. Aber das heißt nicht, dass man der Sicherung der öffentlichen Ordnung durch Beauftragte eines Fürsten als Gegenleistung für steuerartige Abgaben den staatlichen Charakter völlig absprechen kann.

Auch anderes ist diskussionsbedürftig, darunter besonders, dass der Autor seinen Ausgangspunkt allein in der Verwendung der Bezeichnung advocatus/Vogt in den Quellen nimmt, obschon die Unterscheidung zwischen Wörtern, die etwas bezeichnen, Begriffen, die etwas definieren, und historischen Phänomenen ein methodischer Grundsatz ist, den er selber nachdrücklich in Erinnerung ruft. Durch sein Vorgehen werden zwar die Gemeinsamkeiten etwa zwischen den Kirchenvögten des Früh- und Hochmittelalters und den Landvögten späterer Zeit deutlich gemacht, gleichzeitig jedoch die Unterschiede, die es durchaus gegeben hat, verwischt. Außerdem gab es im mittelalterlichen Europa noch weitere Phänomene, die unter der Bezeichnung „Vogtei“ liefen und in diesem Zusammenhang Erwähnung verdient hätten. Hier seien etwa die königlichen Vögte (slottsfogdar) im spätmittelalterlichen Skandinavien genannt; gerade deren notorischer Amtsmissbrauch führte im 15. Jahrhundert zu größeren Aufständen und infolgedessen phasenweise sogar zum Zerfall der Kalmarer Union – eigentlich also ein Fall, der sich besonders gut in die Argumentation des Autors einfügen würde.

Auf derlei hinzuweisen bedeutet nicht, Fehlstellen oder Ungereimtheiten im Buch zu monieren. Im Gegenteil soll damit das Potential angedeutet werden, das sein Ansatz für eine künftige Beschäftigung mit dem Thema birgt. Dem Verfasser ist jedenfalls das Kunststück gelungen, eine verständliche und angenehm (manchmal sogar vergnüglich) zu lesende Einführung für Neulinge zu schreiben und gleichzeitig auch dem Fachmann Stoff zum weiteren Nachdenken zu geben. Wer kann das schon von sich behaupten?

Anmerkung:
1 Siehe bes. den Sammelband von Kurt Andermann / Enno Bünz (Hrsg.), Kirchenvogtei und adlige Herrschaftsbildung im europäischen Mittelalter (Vorträge und Forschungen 86), Ostfildern 2019, auch online: https://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/vuf/issue/view/5066 (10.11.2023).

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